Geschichte des Arbeitskreises
Die Gründung des Carlebach-Arbeitskreises (CAK) im Jahr 1991 konnte an existierende Interessen und Aktivitäten im Bereich Forschung und Lehre zur jüdischen Geschichte, Kultur und Religion sowohl in verschiedenen Fachbereichen der UHH als auch am Institut für die Geschichte der deutschen Juden anknüpfen. Auch wenn wiederholt unternommene Versuche, Judaistik als Fach an der Universität einzuführen, noch bis 2014 erfolglos blieben, bildete das vorhandene thematische Engagement den Ausgangspunkt für die Gründung des Arbeitskreises. Die Initialzündung hierfür war allerdings, obwohl ursprünglich anders motiviert, die Kontaktaufnahme Miriam Gillis-Carlebachs mit der UHH.
Miriam Gillis-Carlebach kommt nach Hamburg
Miriam Gillis-Carlebach hatte 1988/89 auf Einladung des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg (FHH) einen einjährigen Forschungsaufenthalt zur Fortsetzung ihrer Herausgabe der Schriften ihres Vaters Joseph Carlebach in Hamburg verbracht. Im Fachbereich Theologie wirkte sie, insbesondere auf Betreiben Wolfgang Grünbergs, als Gastdozentin. Ein Jahr später, anlässlich des Gedenktags an die Reichspogromnacht, stellte sie in Hamburg, unter anderem im Gästehaus der Universität, eines der Ergebnisse ihres Forschungsaufenthalts vor, das Buch Jüdischer Alltag als humaner Widerstand 1939-1941. Am 8. November 1990 führte sie ein erstes Gespräch mit dem damaligen Universitätspräsidenten Peter Fischer-Appelt.
Miriam Gillis-Carlebachs Vision richtete sich auf die Gründung eines Instituts zur Erforschung zeitgemäßer jüdischer Lehre an der Bar-Ilan Universität in Ramat Gan, Israel. Es sollte dem Wirken ihres Vaters verpflichtet sein, und dafür wünschte sie sich die wissenschaftliche Kooperation mit der UHH. Die Projektidee zielte auf die Erforschung von Leben und Werk ihres Vaters innerhalb des weitgesteckten Rahmens der deutsch-jüdischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Mit diesem Forschungsinteresse traf sie damals ins Zentrum auch des bürgerschaftlichen Engagements in Hamburg, das sich seit den 1980er Jahren dem Erbe des ‚Dritten Reichs‘, der Aufarbeitung der Geschichte Hamburgs im Nationalsozialismus, und etwa dem einstigen jüdischen Leben am Grindel, zuwandte. Miriam Gillis-Carlebachs Engagement erhielt zudem dadurch eine offizielle Note, dass Repräsentanten der Bar-Ilan Universität, zunächst Ari Shumer, anschließend Yissakhar Ben-Yaacov, beim Präsidium der UHH nicht nur die geplante Institutsgründung erläuterten und nachdrücklich mitvertraten, sondern auch um eine stetige wissenschaftliche Kooperation mit dem zu gründenden Joseph-Carlebach-Institut (JCI) warben.
Bildung des Arbeitskreises
Die damalige Vizepräsidentin Barbara Vogel übernahm die Aufgabe, eine solche Kooperation innerhalb der Universität auszuloten und vorzubereiten. Einladungen gingen an Kolleginnen und Kollegen aus mehreren Fachbereichen, von denen bekannt war oder vermutet wurde, dass sie an einer Kooperation interessiert und zur Mitarbeit bereit wären. Der dadurch zustande gekommene Kreis von einem Dutzend Personen tagte erstmals am 18. Oktober 1991 im Gästehaus der Universität. Diese Sitzung blieb nicht die einzige und mündete schnell in die Idee eines „Rabbi-Carlebach-Projekts“; es lag daher nahe, dass die in diesem Kreis Aktiven nachträglich hierin das Gründungsdatum des CAK sehen. Der Arbeitskreis verstand sich als interdisziplinäre Gruppe: Entsprechend der programmatischen Bedeutung des Namens Carlebach fanden sich Forschende und Lehrende aus Geschichtswissenschaft, Theologie, Politik-, Erziehungs- und Literaturwissenschaft zusammen. Die Mitwirkung der Präsidialverwaltung, in der Person des Referatsleiters im Referat für Forschung, Lehre, Studium und internationale Hochschulbeziehungen der UHH, unterstrich die offizielle Aufgabe des CAK.
Die Aufgaben des CAK waren im Rahmen der Projektidee Miriam Gillis-Carlebachs zunächst deutlich definiert und eingegrenzt auf die Planung einer Konferenz. Sie waren gleichwohl schwierig und sogar heikel in der Durchführung, denn noch gab es weder das angestrebte JCI, noch war dessen finanzielle Grundlage oder Organisationsform in Sicht. Miriam Gillis-Carlebach, zu dieser Zeit 70-jährig, war von ihren früheren Funktionen in der Bar-Ilan Universität entpflichtet. Erst als Direktorin des JCI würde sie erneut in die Universität integriert sein. Der CAK plante also zum einen eine wissenschaftliche Konferenz, veranstaltet von der UHH und Miriam Gillis-Carlebach als Direktorin eines prospektiven Instituts an der Bar-Ilan Universität, und zum anderen Schritte, wie diese Institutsgründung realisiert werden könnte. Ansprechpartner hierfür waren Senat und Bürgerschaft der FHH, die signalisiert hatten, Miriam Gillis-Carlebach eine finanzielle Basis für die Institutsgründung bereitzustellen. Ein entsprechender Letter of Intent wurde im Dezember 1993 unterzeichnet.
Die erste Konferenz
Themen, Teilnehmer:innen und Ablauf der Konferenz konkretisierten sich im Austausch zwischen dem CAK und Miriam Gillis-Carlebach ziemlich schnell: Angestrebt war als Konferenzdatum ein Termin um den 26. März 1992, das Datum des fünfzigsten Jahrestags der Ermordung Joseph Carlebachs im KZ Jungfernhof bei Riga. Die Regeln, die für die erste Konferenz vereinbart wurden, eigneten sich auch als Grundlage für alle folgenden „Carlebach-Konferenzen“: eine zwei- bis zweieinhalbtägige Dauer, paritätische Besetzung von Referentinnen und Referenten, also je zur Hälfte vom JCI und vom CAK vorgeschlagen, einvernehmliche Entscheidung über das Konferenzthema. Die erforderlichen Finanzmittel einschließlich der Reise- und Aufenthaltskosten für die Hamburger Delegation nach Israel aufzubringen, gelang für die erste Konferenz mit Hilfe von Improvisation: von UHH, Hamburger Wissenschaftsbehörde, Bar-Ilan Universität und dem unermüdlichen Fundraising Miriam Gillis-Carlebachs, die auf spendenbereite dankbare ehemalige Schüler ihres Vaters als Direktor und Lehrer der Talmud-Tora-Schule vertrauen konnte. Auch diese Kostenverteilung blieb bewährte Regel bei allen nachfolgenden Konferenzen, obwohl der Anteil aus Hamburg im Laufe der Jahre der beständigste blieb und auch erhöht wurde. Denn seit 1993/94 hatte die Hamburgische Bürgerschaft nicht nur mit einem Endowment die dauerhafte Basis für das JCI geschaffen, sondern für die Kooperation der Universität mit diesem Institut einen jährlichen Etatposten in den Haushalt der FHH eingestellt. Dieser Etatposten wurde, als das IGdJ beständiger Partner der Kooperation mit dem JCI wurde, dem IGdJ mit dem speziellen Verwendungszweck zugewiesen.
Die erste Carlebach-Konferenz fand vom 23. bis 27. März 1992 an der Bar-Ilan Universität statt. Die Hamburger Delegation setzte sich aus Mitgliedern des CAK zusammen. Miriam Gillis-Carlebach als Gastgeberin hatte entsprechend dem Bestreben, die Konferenz zur Geburtsstunde des JCI werden zu lassen, neben den Vortragsthemen ein hochoffizielles Rahmenprogramm organisiert: Empfang beim Präsidenten der Bar-Ilan Universität, eine Reihe von Grußworten zur Eröffnung der Konferenz: Bar-Ilan-Präsident und -Rektor, deutscher Botschafter, Dekan der Fakultät für jüdische Studien, Vizepräsidentin der UHH (die zugleich Sprecherin des CAK war) und Miriam Gillis-Carlebach selbst. Zum Rahmenprogramm gehörten festliche Abendessen auf Einladung der Bar-Ilan Universität sowie der deutschen Botschaft. Die kleine wissenschaftliche Konferenz erhielt dadurch auch kulturpolitisches Gewicht. An die Hamburger Delegation richteten sich vielfältige Erwartungen, ob sie aus Hamburg die entscheidende Nachricht zur Gründung des JCI, die Unterstützung durch die Stadt und die Universität, würde verkünden können. Da der CAK mit der Vizepräsidentin allein für die UHH auftreten und nicht für den Senat der FHH sprechen konnte, kommentierte die Presse die damals zunächst noch ausgebliebenen Zusagen für eine Finanzierung des JCI mit Enttäuschung oder sogar deutlichem Ärger.
Die erste Carlebach-Konferenz selbst verlief unspektakulär, fand aber aufmerksame, manchmal fast andächtig lauschende Zuhörer und Zuhörerinnen. Denn das Publikum bestand zu einem großen Teil aus ehemaligen Hamburger:innen und Lübecker:innen, entsprechend der Herkunft und der Wirkungsstätten des verehrten Joseph Carlebach. In den Kaffeepausen wurden die Mitglieder des CAK geradezu belagert, weil Zuhörerinnen und Zuhörer so viel zu erzählen hatten. Das Besuchsprogramm des Hamburger Senats für ehemalige jüdische Hamburger:innen hatte einige von ihnen schon nach Hamburg geführt, und der Wunsch nach Austausch von Erlebnissen und Erfahrungen war groß. Für die Mitglieder des CAK zeigte sich auf dieser ersten Konferenz, was die Kooperation von Bar-Ilan Universität und UHH auch weiterhin forderte: Neben dem wissenschaftlichen Tagungsprogramm galt es, im Gespräch mit Überlebenden des Holocaust und von den Nationalsozialisten Vertriebenen die richtigen Themen anzuschlagen und den richtigen Ton zu treffen. Diese Aufgabe stellte sich vornehmlich auf den Konferenzen in Israel, jedoch gab es auch bei den im turnusmäßigen Wechsel in Hamburg stattfindenden Konferenzen immer wieder Situationen zu überbrücken, in denen das Gespräch zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Konferenzteilnehmer:innen durch Missverständnisse oder unsensible Äußerungen, aber auch durch unüberbrückbare Meinungsverschiedenheiten abzubrechen drohte.
Aufgaben und Aktivitäten des CAK
Die doppelte, untrennbar verknüpfte Aufgabenstellung der Kooperation mit wissenschaftlichem und kulturpolitischem Auftrag blieb den Konferenzen eingeschrieben, auch nach erfolgreicher Gründung des JCI. Dadurch entstand für lange Zeit unter den Mitgliedern des CAK ein besonderes Vertrauensverhältnis, was sich einerseits als förderlich für die Zusammenarbeit mit der Direktorin des JCI erwies, andererseits aber in gewissem Maße hemmend für eine kontinuierliche Erweiterung und Erneuerung des CAK innerhalb der UHH war. Miriam Gillis-Carlebach fühlte sich im Kreis derer, die sie kennengelernt hatte und deren Integrität sie vertraute, freier und emotional souveräner als gegenüber neu Hinzukommenden. Im CAK lernten wir bald, wie viel Selbstüberwindung Miriam Gillis-Carlebach bei Besuchen und Auftritten in Hamburg aufbringen musste, sodass wir gern unseren Beitrag zu einer entspannten, fruchtbaren Arbeitsatmosphäre bei der Vorbereitung und Durchführung der Carlebach-Konferenzen leisteten. In den nächsten Jahren bildete sich immer deutlicher heraus, dass Miriam Gillis-Carlebach nicht nur Direktorin des JCI war, sondern auch eine führende Kraft im CAK darstellte.
Die wichtigste Aufgabe des CAK lag und liegt in der Planung und Durchführung der regelmäßig alle zwei bis drei Jahre stattfindenden Carlebach-Konferenzen in Kooperation mit dem JCI. Eine Einigung über Themen und Vortragende, die eingeladen werden sollten, gelang meistens reibungslos, dem allseits akzeptierten Grundsatz folgend, dass der jeweiligen Gastgeberinstitution die Letztentscheidung zukam. Schwierige Situationen ergaben sich eher aus aktuellen politischen Konfliktlagen, am gravierendsten nach dem tödlichen Attentat auf Jitzchak Rabin am 4. November 1995. Der Attentäter war Student der Bar-Ilan Universität gewesen, und der CAK befand sich mitten in der Planung einer Konferenz ebendort. Neben der Reiseunsicherheit wegen der in Israel ausbrechenden Unruhen musste eine Haltung gegenüber der Bar-Ilan Universität gefunden werden, die in der israelischen und deutschen Öffentlichkeit beschuldigt wurde, politischen und religiösen Radikalismus zu dulden oder sogar zu befördern. Der Zufall der Themenwahl für die bevorstehende Konferenz, „Toleranz im Verhältnis von Religion und Gesellschaft“, half uns bei der Entscheidung, ob wir nach Israel reisen sollten. Der CAK beteiligte sich über Leserbriefe, zum Beispiel an den Spiegel, daran, die Bar-Ilan Universität gegen maßlose Angriffe in Schutz zu nehmen.
Neben den Konferenzen und der Pflege des Gesprächs mit Miriam Gillis-Carlebach traten andere Aktivitäten des CAK in den Hintergrund. Hervorzuheben ist die Initiative, das Angebot an jüdischen Studien in der UHH auszuweiten und entsprechende Lehrangebote zu Themen jüdischer Kultur, Geschichte und Religion aus allen Fachbereichen im Vorlesungsverzeichnis an prominenter Stelle bekanntzumachen. Gleichzeitig erweiterte sich dadurch der Kreis der sich an den Carlebach-Konferenzen Beteiligenden, als Publikum, als Referent:innen, auch als neue Mitglieder des CAK. Eine für dessen Aktivitäten wichtige Erweiterung wurde die Mitwirkung des IGdJ. Im Laufe der Zeit dehnte sich die Themenwahl für die Konferenzen über das Spektrum des Wirkens Joseph Carlebachs hinaus dann auch inhaltlich aus.
Carlebach-Preis und Generationswechsel
Im Jahre 2003 stiftete Universitätspräsident Jürgen Lüthje auf Vorschlag des CAK den Joseph-Carlebach-Preis der UHH. Auch dieser Preis trug zur Ausweitung jüdischer Studien an der Universität bei. Die Auswahl der Preisträger:innen alle zwei Jahre obliegt dem CAK beziehungsweise einer von ihm benannten Jury.
Nach über zwanzigjährigem Bestehen des Carlebach-Arbeitskreises wurde die Frage der zukünftigen Gestaltung der Kooperation mit dem JCI immer drängender. Der Wunsch Miriam Gillis-Carlebachs, sich aus der aktiven Leitung des JCI zurückzuziehen, das Erfordernis, Zielsetzung und Themenschwerpunkte der Kooperation neu zu bestimmen, forderten Lösungen. Auch im CAK war 30 Jahre nach seiner Gründung ein Generationswechsel fällig geworden; er ist mittlerweile erfolgreich abgeschlossen.