Joseph Zvi Carlebach (1883-1942)
Herkunft, Ausbildung, Kriegsdienst
Joseph Hirsch (Zvi) Carlebach gehörte als Pädagoge wie als orthodoxer Theologe zu den herausragenden Repräsentanten des deutschen Judentums vor dem Holocaust. Carlebach wurde am 30. Januar 1883 in Lübeck geboren – als achtes von insgesamt zwölf Kindern des Gemeinderabbiners Salomon Carlebach (1845–1919) und dessen Ehefrau Esther, geb. Adler (1853–1920). Nach der Reifeprüfung am Lübecker Katharineum schrieb er sich 1901 an der Universität in Berlin ein, wo er sich vornehmlich der Mathematik und den Naturwissenschaften zuwandte. Sein Examen als Oberlehrer bestand er 1905, um kurz darauf einem Ruf an das vom Hilfsverein der deutschen Juden eingerichtete Lehrerseminar in Jerusalem zu folgen. 1907, nach der Rückkehr aus Palästina, begann er mit den Vorarbeiten zu seiner Dissertation über den jüdischen Mathematiker Gersonides, mit der er 1909 in Heidelberg promoviert wurde. Zusätzlich absolvierte Carlebach ein Studium am orthodoxen Rabbinerseminar in Berlin, das ihm 1914 die Ordinationsurkunde ausstellte.
Carlebach diente als Freiwilliger im Ersten Weltkrieg, in dessen Verlauf ihn das Deutsche Heer mit dem Aufbau eines jüdischen Gymnasiums in Kowno (Litauen) betraute. Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs heiratete der Heimkehrer seine ehemalige Schülerin Charlotte Helene Preuss (genannt Lotte, 1900–1942) in Berlin. Gemeinsam mit ihrer ersten Tochter Eva Sulamith zogen die beiden 1920 nach Lübeck, wo Joseph Carlebach vorübergehend seinem verstorbenen Vater als Rabbiner nachfolgte. In Hamburg lebten die Carlebachs seit 1921, als die Deutsch-Israelitische Gemeinde Joseph Carlebach zum Leiter der am Grindel gelegenen Talmud-Tora-Realschule ernannte.
Leben und Wirken in Hamburg
Gemeinsam mit Lotte, Eva und der 1920 geborenen zweiten Tochter Esther Helen bezog der Familienvater eine Wohnung in der Bieberstraße, in der auch der weitere Nachwuchs die ersten Lebensjahre verbrachte: 1922 wurden Miriam und Julius Isaak geboren, 1924 kam die vierte Tochter Judith Jeanette zur Welt, Peter Salomon folgte als sechstes Kind ein Jahr später.
Während seiner Jahre in der Hansestadt Hamburg setzte sich Carlebach für eine umfassende Neugestaltung des Schulbetriebs der jüdischen Knabenschule ein. Zugleich arbeitete er an einer Reformpädagogik für das traditionelle Judentum, die er in mehreren Aufsätzen darlegte. Als er 1926 die Schulleitung an seinen Nachfolger übergab, gehörte die Talmud-Tora-Realschule mittlerweile zu den renommiertesten höheren jüdischen Lehranstalten im deutschen Sprachraum.
Joseph Carlebach folgte einem Ruf als neuer Oberrabbiner der Hochdeutschen Israelitengemeinde nach Altona, wo die Familie ein neues Domizil an der Palmaille bezog. In den Jahren danach folgten weitere Wohnungswechsel – zuletzt in die Klopstockstraße, das kurze Verbindungsstück zwischen Palmaille und Elbchaussee. Drei weitere Töchter wurden in Altona geboren: Nach der Geburt von Ruth Rosa (1926) und Noemi (1927) kam 1928 Sara Stella zur Welt. Sobald sie das schulpflichtige Alter erreicht hatten, besuchten die Kinder die jüdische Volksschule, bevor sie mit der Sexta auf Hamburger Schulen wechselten (Altona gehörte erst ab 1938 zur Hansestadt Hamburg). Während die älteren Töchter in der Israelitischen Töchterschule in der Karolinenstraße unterrichtet wurden, gingen Julius und Peter zur Talmud-Tora-Oberrealschule.
Unter dem Hakenkreuz
Für die Kontinuität jüdischen Lebens stellte die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 eine Bedrohung dar, der sich Carlebach mit seiner ganzen Energie entgegensetzte. 1936 kehrte die Familie nach Hamburg zurück, wo Joseph das Oberrabbinat des orthodoxen Synagogenverbandes antrat. Anfang Juli 1936 bezogen die Carlebachs ihr neues Domizil in der Hallerstraße (von den Nationalsozialisten in Ostmarkstraße umbenannt). Zunehmende Entbehrungen und wachsende Herausforderungen diktierten ihren Alltag im ‚Dritten Reich‘.
Mit dem Thema Emigration befasste sich der Familienrat vor allem nach der Reichspogromnacht im November 1938. Bis zum Sommer 1939 gelang es Lotte und Joseph Carlebach, fünf ihrer neun noch minderjährigen Kinder in Sicherheit zu bringen. Judith und Julius gelangten bereits im Dezember 1938 mit einem der sogenannten Kindertransporte nach England. Im Frühjahr 1939 reisten die beiden ältesten Mädchen, Esther und Eva, mit individuellen Einreisegenehmigungen ebenfalls nach England. Miriam entschied sich für ein Leben in (Eretz) Israel – sie verließ Hamburg ein paar Tage vor dem Novemberpogrom. Binnen weniger Monate waren so aus fünf Kindern ferne Briefpartner geworden.
Im Oktober 1941, als die jüdische Auswanderung aus Deutschland per Geheimdekret verboten wurde, lebten noch etwa 7.500 Juden im Raum Groß-Hamburg. Zu ihnen gehörten die sechs Carlebachs, die seit dem 15. September einen gelben Davidstern deutlich sichtbar an ihrer Kleidung tragen mussten, wann immer sie sich außerhalb ihrer eigenen vier Wände bewegten. Carlebach selbst hatte die neue diskriminierende Anordnung von der Kanzel verkündet, verbunden mit dem Appell an die Gläubigen, den ‚gelben Fleck‘ mit Stolz zu tragen.
Deportation und Ermordung
Seit Oktober 1941 wurden in Hamburg die ersten Deportationen von Jüdinnen und Juden durchgeführt. Am 6. Dezember mussten auch die sechs Carlebachs am Hannoverschen Bahnhof den Zug gen Osten besteigen. Die strapaziöse Reise endete in Skirotava, einem kleinen Verladebahnhof, der etwa 12 Kilometer von der lettischen Hauptstadt Riga entfernt lag. Von dort marschierten die Verschleppten durch die winterliche Kälte zu dem Arbeitslager Gut Jungfernhof (Jumpravmuiža).
Wer die Erinnerungsberichte von Überlebenden aus Jungfernhof liest, gewinnt eine ungefähre Ahnung nicht nur von den organisatorischen Leistungen, die Carlebach im Verlaufe des Winters vollbrachte, sondern auch von dem Trost und Zuspruch, die von ihm ausgingen. In den Augen vieler Häftlinge war der Geistliche das „Licht in der Finsternis“, weil er sich gemeinsam mit seiner Frau der Aufgabe widmete, „das Los der Schwachen“ zu erleichtern, Rat zu erteilen und Halt zu geben. So wichtig die Gegenwart und der Zuspruch Carlebachs für den inneren Zusammenhalt der jüdischen Gemeinschaft im KZ waren, so gehörte der Rabbiner zu den älteren Gefangenen, für die in den Augen der SS-Bewacher kein Platz auf dem Gut war. Auch Kinder und ihre Mütter galten als ‚untauglich‘ für den Arbeitseinsatz in der Landwirtschaft.
Bereits im Februar 1942 waren Kranke und Sieche aus Jungfernhof abtransportiert und wenig später ermordet worden. Eine wirkliche Zäsur in der Geschichte des Lagers vollzog sich jedoch während der ‚Aktion Dünamünde‘ im darauffolgenden Monat. Bei diesem perfiden Täuschungsmanöver wurden die jüdischen Häftlinge zunächst in dem Glauben gelassen, dass alle jene, die keine schweren körperlichen Tätigkeiten verrichten konnten, an den unweit entfernten Hafenort Dünamünde am Rigaischen Meerbusen verlegt würden. Angeblich sollten sie dort in einer Fischkonservenfabrik arbeiten. Auch die Namen von Joseph und Lotte Carlebach und der Töchter Ruth (15 Jahre), Noemi (14 Jahre) und Sara (13 Jahre) waren auf den Transportlisten verzeichnet. Lediglich der 16-jährige Salomon, der einem Arbeitskommando zugeteilt wurde, sollte in Jungfernhof zurückbleiben.
Mit Bussen und LKW in den Hochwald bei Riga verfrachtet, wurden die Todgeweihten in ausgehobene Gruben getrieben, wo ein lettisches Erschießungskommando sie unter Maschinengewehrfeuer nahm. Alles in allem wurden 1.800 Häftlinge aus Jungfernhof im Verlaufe eines einzigen Tages kaltblütig ermordet. Auch die Mädchen Sara, Noemi und Ruth mit ihren Eltern Lotte und Joseph Carlebach starben im Hochwald bei Riga. Die Schoa überlebte allein Salomon Carlebach, der eine Odyssee durch Ghettos und Konzentrationslager durchmachte, bis er im März 1945 in der Nähe von Danzig halb verhungert von der Roten Armee befreit wurde.