Miriam Gillis-Carlebach (1922-2020)
Miriam Gillis-Carlebach gründete 1992/93 das Joseph-Carlebach-Institut (JCI), das sie bis zum Jahre 2016 als Direktorin leitete. Sie blieb dem JCI auch unter ihrem Nachfolger George Yaakov Kohler bis zu ihrem Tode Anfang 2020 eng verbunden. Bibliothek und Archivalien des JCI sind Werk ihrer Sammlungstätigkeit und ihres Findungsgeistes. Darüber hinaus lagerte in ihrem privaten Zuhause ein reichhaltiger Nachlass. Zeugnis ihrer mehr als zwanzigjährigen wissenschaftlichen Kooperation mit dem Carlebach-Arbeitskreis (CAK) der Universität Hamburg (UHH) sind elf internationale Konferenzen, deren Beiträge in zehn Bänden publiziert wurden. Thematisch umfassten die Konferenzen Geschichte, Religion und Kultur der Juden in Deutschland seit dem späten 19. Jahrhundert mit einem Schwerpunkt auf Werk und Wirken Joseph Carlebachs und auf der Vernichtung des deutschen Judentums während des nationalsozialistischen Regimes.
Kindheit und Familie
Miriam Carlebach wurde in Hamburg am 1. Februar 1922 als drittälteste Tochter Joseph Carlebachs und seiner Ehefrau Charlotte, geb. Preuss, geboren. Sie starb in Petach Tikwa in Israel am 28. Januar 2020. Ihre Schullaufbahn begann in der jüdischen Gemeindeschule Altona, anschließend besuchte sie zunächst Israelitische Töchterschule in der Karolinenstraße und ab 1938 die Talmud-Tora-Oberrealschule in Hamburg. Mit einem Touristenvisum floh sie sechzehnjährig im Oktober 1938 nach Palästina. Drei ihrer Schwestern und ihren Bruder Julius (ebenfalls Jahrgang 1922) konnten die Eltern nach England und Palästina in Sicherheit bringen.
Ihre in Hamburg gebliebenen Eltern wurden gemeinsam mit den vier jüngsten Kindern im Dezember 1941 in das Lager Jungfernhof bei Riga in Lettland deportiert. Am 26. März 1942 wurden Miriams Eltern sowie ihre Schwestern Ruth, Noemi und Sara in einer Erschießungsaktion ermordet. Einzig ihr Bruder Salomon überlebte die Lageraufenthalte. Er wanderte nach dem Krieg in die USA aus.
Im Mandatsgebiet Palästina wohnte Miriam zunächst in Haifa und besuchte dort eine Landwirtschaftsschule. Bis 1943 lebte und arbeitete sie im Kibbuz Alumin. Ein Jahr später heiratete sie den ebenfalls aus Deutschland, aus Beuthen in Oberschlesien, geflohenen Mosche Gillis. Aus der Ehe gingen vier Kinder hervor.
Spätes Studium
1968 – also „25 Jahre später als ihr alle“, pflegte sie oft im CAK zu sagen, um ihr höheres Lebensalter zu begründen – holte Miriam Gillis-Carlebach das Abitur nach und studierte Erziehungswissenschaft. Sie unterrichtete ab 1973 an der Bar-Ilan Universität im israelischen Ramat Gan. 1984 folgte die Promotion, und im Jahr 1988 übernahm sie die Leitung des Haddad-Legasthenie-Instituts an der Bar-Ilan Universität. Auf der Basis eines Endowments der Freien und Hansestadt Hamburg (FHH) gründete sie dort 1992/93 das JCI, in dem sie ihr Lebenswerk verwirklicht sah. Außer mit der UHH kooperierte das JCI mit weiteren wissenschaftlichen Einrichtungen in Deutschland, regelmäßig z. B. mit der Universität Magdeburg. Neben ihren akademischen Tätigkeiten wirkte Miriam Gillis-Carlebach vielfältig auch in anderen Bereichen. Sie schrieb Radiosendungen zur jüdischen Geschichte für das israelische Erziehungsministerium, bildete Lehrkräfte für Kinder mit Leseproblemen aus und war als Lehrerin tätig.
Wiedersehen mit Hamburg
Im Januar 1983 kehrte Miriam Gillis-Carlebach erstmals in ihre Geburtsstadt Hamburg zurück, aus Anlass des Gedenkens an die fünfzigjährige Wiederkehr der Machtübertragung an die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933. In den folgenden Jahrzehnten sollten weitere Aufenthalte folgen, vornehmlich zu Forschungszwecken über das Wirken ihres Vaters. Die Wiederbegegnung mit ihrer Hamburger Kindheit regte sie jedoch bald auch zu einer Biographie über ihre Mutter an. 1988/89 verbrachte sie einen einjährigen Forschungsaufenthalt in der Hansestadt, 1990 wirkte sie als Gastdozentin am Fachbereich Theologie der Universität Hamburg. Als Direktorin des JCI weilte sie nahezu jedes Jahr für einige Tage in Hamburg: zu den Joseph-Carlebach-Konferenzen, auf Einladung der UHH und des Senats der FHH.
Seit den 1990er Jahren wurde Miriam Gillis-Carlebach für ihr Wirken mehrfach ausgezeichnet. Die UHH ernannte sie 1995 zur Ehrensenatorin, und der Hamburger Senat verlieh ihr den Professorinnentitel. Im Jahre 2008 wurde ihr das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse verliehen, 2009 erhielt sie die Ehrendoktorwürde der Universität Oldenburg und 2017 die Medaille für Kunst und Wissenschaft der Stadt Hamburg.